Danny Sugerman – Beschreibung einer Kindheit mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung in Hollywood

1989 veröffentlichte der amerikanische Bühnenmanager und Autor Danny Sugerman seine Autobiographie mit dem Titel „Wonderland Avenue“, zwei Jahre später erschien das Buch in deutscher Sprache beim Maro-Verlag Augsburg, inzwischen liegt es als Taschenbuch in der Serie Piper vor (1). Sugerman hatte als Jugendlicher engen Kontakt mit Jim Morrison, dem Leadsänger der Doors, einer der bekanntesten Rockbands ihrer Zeit, unter anderem mit dem großen Hit „Light My Fire“; nach dem Tod von Morrison managte er das Bandmitglied Ray Manzarik sowie ein weiteres Pop-Idol, Iggy-Pop. In seiner Biographie schildert er sehr eindringlich seine durch die Trennung der Eltern und das Aufwachsen mit einem gehaßten Stiefvater recht problematische Kindheit und Jugend sowie seine späteren Erfahrungen mit „Sex & Drugs & Rock’n’Roll“, wie es im Untertitel des Buches heißt. Was das Buch für die Leser dieser Zeitschrift so interessant macht, ist die Tatsache, daß der Autor ganz offensichtlich unter einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) leidet. So beschreibt er ein Gespräch mit seinem Idol Jim Morrison im Alter von 13 Jahren, als man ihn der Schule verwiesen hatte, nachdem er die Schultoilette in die Luft gesprengt hatte:

„In Duke’s Coffee Shop erzählte ich an einem warmen Dienstagmorgen im Februar 1967 Jim Morrison meine Lebensgeschichte, wobei ich mich auf die letzten 12 Monate konzentrierte. Ich schien ständig Ärger zu haben, erzählte ich ihm. Alles was mir gefiel, brachte mir immer Schwierigkeiten ein. Früher oder später kam immer einer an und sagte: `Das ist jetzt verboten.‘ So war es mir mit meinen Tieren ergangen und mit dem Catchen.

Ich hielt inne.

`Und jetzt wollen sie mir auch den Rock’n’Roll wegnehmen. Es macht mich wirklich traurig. Außerdem wollen sie, daß ich zu ’nem Arzt gehe und mir Pillen verschreiben lasse, die mich müde machen sollen. Ich weiß nicht, was ich tun soll.‘

Er wirkte interessiert.

`Weißt du, ich glaube, irgendwo muß es ein ungeschriebenes Gesetz geben, das besagt: Laß deine Kinder auf keinen Fall so werden, wie sie sind. Ihr Ziel ist es, einen seelisch zu brechen. Im Süden, wo ich herkomme, geben sie das offen zu. Ist man erst seelisch gebrochen, bleibt Raum für ihren Gott und ihre Vorschriften.‘

Er überlegte kurz.

`Was für Pillen sind das denn?‘

Ich erzählte ihm, was ich wußte. Man hatte gesagt, daß ich hyperaktiv sei; ich hatte viel Ärger in der Schule. Meine Lehrer sagten, meine Eltern müßten etwas dagegen unternehmen. Mom hatte heute einen Termin in der Schule, um zu besprechen, was mit mir geschehen sollte. Ein Arzt hatte ein Medikament namens Ritalin vorgeschlagen, das eigentlich ein Aufputschmittel war, auf hyperaktive Kinder aber aus bestimmten Gründen eine beruhigende Wirkung hatte. Solche Kinder leiden unter einer angeborenen Überproduktion des Schlafhormons, und um diese ständige Müdigkeit zu neutralisieren, entwickeln sie einen unterbewußten Abwehrmechanismus, der es ihnen ermöglicht, aufmerksam und wach zu bleiben. Diese Abwehr zur Kompensation der Müdigkeit äußert sich in extremer Aktivität und der Unfähigkeit stillzusitzen oder den Mund zu halten. Ritalin verlangsamt die Produktion des schlafauslösenden Hormons und beseitigt den Anlaß des Abwehrverhaltens.

Morrison hörte zu und wurde wütend.

`Das ist doch Scheiße! Jetzt hör mir mal gut zu. Laß das nicht mit dir machen. Nur weil du nicht in ihr System paßt und ihre Erwartung enttäuschst, wollen sie dich innerlich zerbrechen und so verbiegen, bis du da reinpaßt. Das ist Scheiße. Laß dich nicht an die Leine legen. Du hast einfach das Glück, viel Energie zu haben. Laß nicht zu, daß sie das mit diesen Scheißpillen abtöten. Sei einfach du selbst. Mein Gott!‘ sagte er zu dem Mädchen, `Das darf doch nicht wahr sein!‘

`Aber…‘ stammelte ich, `aber was ist, wenn man gar nicht weiß, wer man eigentlich ist?‘

Ich hatte Morrison beeindrucken wollen und jetzt war ich auf dem besten Weg, einen Vollidioten aus mir zu machen.

Ihn kümmerte das einen Scheiß.

`Kein Kind in deinem Alter weiß, um was es eigentlich geht. Aber du kommst schon noch dahinter, ganz bestimmt‘, ermutigte er mich. `Du darfst dir nur keine Grenzen setzen. Das ist der Weg zur Erkenntnis. Man muß alle möglichen Erfahrungen sammeln und herausfinden, in welcher Beziehung man zur Welt steht, und mit der Zeit bekommt man dabei ein klareres Bild von sich selbst. Aber laß dich von niemand ändern. Bestehe auf die Freiheit, alles wenigstens einmal auszuprobieren. Setz dir keine Grenzen. Glaubst du, du schaffst das?‘

`So habe ich es schon mein ganzes Leben lang gemacht!‘, rief ich. `Schön, dann hör jetzt bloß nicht damit auf.‘

Zum Aufhören ist es jetzt zu spät, dachte ich bei mir.“ (1, S. 66-67)

Vielen wird der Einwand, daß Danny sich durch die Medikation innerlich nicht zerbrechen und verbiegen lassen solle, daß man ihn nur an die Leine legen wolle, daß man seine Energie mit den Pillen abtöten wolle, sehr bekannt vorkommen. Immerhin war der Leidensdruck des Dreizehnjährigen aber schon so groß geworden, daß er sich nicht ohne weiteres von dieser Argumentation überzeugt zeigte. Über seine Probleme in der Schule schreibt Morrison unter anderem:

„Die Lehrer setzten übrigens ebenso hochgespannte Erwartungen in mich (falls sie mich nicht schon zuvor als Schüler gehabt hatten). Vor einigen Jahren hatten sie erst meinen Bruder und dann meine Schwester unterrichtet, die durch Lerneifer geglänzt, hervorragende Noten erzielt und den Olymp des Wissens und der Gelehrsamkeit erklommen hatten. `Dumm bist du jedenfalls nicht‘, sagten sie. Wirklich haarig wurde die Sache immer, wenn sich ein Lehrer in den Kopf setzte, er sei dazu ausersehen, dieses `brachliegende Potential‘ zu erschließen. Leider gelang es keinem von ihnen; schlimmer noch, ihr Versagen bedeutete für mich immer ein Versagen in den von ihnen unterrichteten Fächern. Wenn Lehrer einem Kind erklären, es werde `den eigenen Möglichkeiten nicht gerecht‘, dann wollen sie in Wirklichkeit damit sagen, daß sie das Kind nicht motivieren können, das zu tun, was sie wollen, es ist also ihr Versagen, nicht umgekehrt. Doch auf diese Weise ist das Kind der Sündenbock, nicht der Lehrer. Es ist ein ziemlich gerissener, um nicht zu sagen schäbiger Winkelzug.

Ich gab mir Mühe, Nan und Joe ihre schulischen Leistungen nicht zu verübeln. Trotzdem war ich nicht grade begeistert, daß meine Schwester seit kurzem einen Studienplatz an der University of California in Los Angeles hatte und mein Bruder Medizin studieren wollte. Alles schien sich gegen mich verschworen zu haben, mir Steine in den Weg zu legen, für mich waren ihre Erfolge ein persönlicher Affront.

Nach wie vor machte ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit einen Abstecher nach Hollywood, tat aber alles, um zu Hause und in der Schule den Schein zu wahren. Konkret hieß dies, daß ich mir Ausreden für mein Fehlen in der Schule überlegen und rechtzeitig zum Abendessen wieder zu Hause sein mußte. Bald fiel den Lehrern mein wiederholtes Fehlen auf, und obwohl ich mir alle Mühe gab, bekam mein Lügengebäude die ersten Risse. Der Druck war einfach zu groß – weder meine Familie durfte etwas von meinen heimlichen Ausflügen erfahren, noch die Schule. Und nicht nur vor meinen Eltern und Lehrern mußte ich es verheimlichen, auch vor meinen Mitschülern. Sie nahmen mir nicht ab, daß ich die Doors überhaupt kannte, und auch das erwies sich als große Belastung und brachte mich ständig in Verlegenheit, ohne daß ich etwas dagegen tun konnte. Es macht nicht grade Spaß, wenn einen alle für einen Lügner halten, und als Teenager schon gar nicht. Allmählich betrachtete ich dieses Lebensalter als eine Art sich besonders lang hinziehender Geisteskrankheit.“ (1, S.82-83)

Wenig später heißt es: „In der Schule frustrierte mich meine Unfähigkeit zur Anpassung immer mehr. Es hörte sich so leicht an. Ich sah mich um – die anderen Jugendlichen hatten damit überhaupt keine Probleme. `Du gibst dir keine Mühe‘, sagten sie mir, dabei war es in Wirklichkeit leider so, daß ich gar nicht wußte, was ich tun sollte. Aber ich gab Ihnen recht, was sie überraschte. Meine Geschichts- und Mathelehrerinnen meldeten mein Fehlen schon gar nicht mehr. Ich mußte nicht mal in ihren Unterricht gehen. Und was war mit den anderen Lehrern? Wahrscheinlich hatten sie mich als `fehlt unentschuldigt‘ ins Klassenbuch eingetragen. Aber selbst das ließ sich regeln. Es gab Zeugnisse, und dazu mußte ich nicht nur in die Schule gehen, sondern auch die Schmach ertragen, mit dem Formular die Lehrer einzeln abzuklappern, damit sie ihre Noten eintragen und unterschreiben konnten. Schließlich mußte ich die Hiobsbotschaft mit nach Hause nehmen und meinen Eltern zeigen. Meine Mutter warf einen Blick auf die zwei Reihen: `Unbefriedigend‘ in den Spalten `Verhalten‘ und `Mitarbeit‘, zweistellige Zahlen in den Rubriken `Fehlstunden‘ und `Verspätungen‘; zwei `ungenügend‘, drei `ausreichend‘ und ein `sehr gut‘ (in Sport). Die Bemerkungen der Lehrer waren fast noch schlimmer als die Noten.

`Was ist, wenn ich das einfach nicht unterschreibe?‘ fragte meine Mutter mich.

`Ich weiß nicht. Werde ich dann von der Polizei abgeholt?‘.

`Mach keine Witze‘, sagte sie.

`Ach, komm, Mom, so schlimm ist das doch gar nicht. Immerhin bin ich nicht durchgerasselt, schließlich habe ich die neunte Klasse bestanden.‘

`Das ist schlimm‘, widersprach sie ganz traurig. `Ich glaube, dir ist gar nicht klar, wie schlimm das ist.‘

`Na, ja, davon geht die Welt doch nicht unter, oder?‘ fragte ich und versuchte, den bislang ziemlich düsteren Nachmittag etwas aufzuheitern. `Weißt, du, vielleicht bin ich dir gegenüber zu nachgiebig. Ich fürchte, wenn ich dir Vorschriften mache, würdest du dich nicht einmal mehr bei mir melden. Ich weiß nie, wo du bist oder was du machst. Vielleicht habe ich es zu gut mit dir gemeint.‘

Sie warf mir einen Blick zu, um sich zu vergewissern, daß ich sie nicht verdammte. `Vielleicht habe ich bei dir die Zügel zu sehr schleifen lassen‘, fügte sie hinzu. (1, S.90-91)

Als die Probleme in der Schule immer mehr eskalierten, kam es zu einer großen Aussprache gemeinsam mit den Eltern und dem Schuldirektor Tanner:

“ `Danny scheint sich einfach an keine Vorschriften halten zu können‘, sagte Tanner. `In der Schule nicht und offensichtlich auch nicht zu Hause. Sie sind seine Eltern. Es muß etwas unternommen werden.‘

Scheiße, jetzt kommt’s. Ich war kurz vor dem Kotzen.

`Was schlagen Sie vor, das wir dagegen tun sollen?‘ fragte Dad ihn.

`Ich glaube nicht, daß jemand von uns etwas dagegen tun kann‘, sagte Tanner.

`Was?‘ riefen wir alle gleichzeitig.

`Was wollen Sie damit sagen? Daß wir dem Jungen weiter freien Lauf lassen sollen?‘

`Nein, das dürfen wir nicht länger zulassen. Aber die Entscheidung, was geschehen soll, liegt nicht bei uns. Ihr Sohn muß entscheiden.‘

Alle Blicke richteten sich auf mich.

Tanner fuhr fort:

`Wir können einige Alternativen aufzeigen, aber er muß die Wahl treffen. Wir können ihn zu nichts zwingen.‘

Ich traute meinen Ohren nicht. Sie gaben es zu. Solange ich zurückdenken konnte, hatte ich versucht, ihnen diese Tatsache klarzumachen, und jetzt gaben sie sich praktisch geschlagen. Irgendwie konnte ich diesen Triumph nicht richtig genießen.

`Also, wie hättest du es denn gerne?‘ fragte mich Tanner, der mein Zeugnis zusammenfaltete und sich noch immer in seinem Sessel nach hinten lehnte.

`Mmh….was waren gleich noch mal meine Möglichkeiten?‘

`Du kannst auf eine andere Schule wechseln, obwohl ich bezweifle, daß dich eine staatliche Schule aufnehmen wird, was also auf den Eintritt in eine Militärakademie hinausläuft. Oder wir können es mit diesen Medikamenten versuchen, die dir nach Ansicht der Ärzte helfen werden, dich zu benehmen.‘

Dad ergriff das Wort, bevor ich etwas sagen konnte.

`So leicht kann man sich das nicht machen. Der Junge muß nur ein bißchen Disziplin lernen. Man kann ihm nicht einfach eine Pille geben und erwarten, daß alles weggeht.‘

Tanner antwortete:

`Aber ist es nicht Dannys Entscheidung? Wenn es funktionieren soll, muß er die Entscheidung treffen. Darin stimmen wir doch alle überein, oder?‘

`Was möchtest du also, Junge‘ fragte Dad.

Die Antwort fiel mir leicht: Ich entschied mich für das Medikament.

`Wann?‘ fragte Tanner.

`Wann Sie wollen.‘

`Ich hoffe um deinetwillen, daß es klappt‘, sagte Tanner.

`Das hoffe ich auch‘, sagte ich, an alle gewandt.

Meiner Meinung nach lautete die Frage nicht: War ich hyperaktiv oder nicht, sondern vielmehr: Hatte ich damit alle vom Hals.

Der Arzt erklarte mir, Ritalin könnte die Symptome kurieren, aber nicht alle meine Probleme für mich lösen. Es kam ganz darauf an, wie man die Probleme definierte. War das Problem eine Verbesserung meiner Leistung in der Schule, dann funktionierte Ritalin. Wenn das Problem Clarence (Anmerkung: der Stiefvater) war, nun, auf ihn hatte Ritalin keinerlei Einfluß. Es verbesserte jedoch meine Konzentrationsfähigkeit; ich konnte länger stillsitzen.

Besser leben durch Chemie, das war damals die Devise. Ich muß zugeben, ich war ganz schön beeindruckt. Eine kleine Pille, und fast über Nacht änderte sich so vieles. Meine Noten wurden in allen Fächern besser (einschließlich Mitarbeit und Verhalten). Die Lehrer waren von dem Experiment in Kenntnis gesetzt und gebeten worden, mir noch eine Chance zu geben und sorgfältig auf alle Veränderungen an mir zu achten. Sie waren von der Wirkung überrascht und berichteten, daß sich mein Verhalten auf wundersame Weise gebessert hatte. Ich nahm ihr Lob gelassen hin. Als Mr. Tanner zwei Monate lang nichts mehr von mir gehört hatte, rief er sogar zu Hause bei meiner Mutter an, nur um sich zu vergewissern, daß mit mir alles in Ordnung war. Alles war in schönster Ordnung. Zum ersten Mal in meinem Leben erledigte ich regelmäßig meine Hausaufgaben. Die Schule fiel mir leichter. Die Doors erlaubten mir, ihnen bei den Proben zuzuhören, was jedesmal der Höhepunkt meiner Woche war. Wenn sie nicht arbeiteten oder Auftritte außerhalb der Stadt hatten, ging ich zu Evan. Mit Hilfe von Ritalin konnte ich die Schule und meine außerschulischen Aktivitäten ohne Probleme unter einen Hut bringen. Alles entwickelte sich so gut, daß es fast zu schön war, um wahr zu sein. Das Leben war schön. Sogar Clarence konnte mir nicht die Laune vermiesen.“ (1, S.95-97)

Ritalin hatte also einen ausgezeichneten Effekt, konnte aber die äußeren Probleme des Heranwachsenden nicht lösen, der hin und her gerissen war zwischen seinem Verpflichtungsgefühl gegenüber der Mutter, die mit dem gehaßten Stiefvater zusammenlebte, dem Angebot des wohlhabenden Vaters, ihn wie zuvor schon seine beiden älteren Geschwister bei sich aufzunehmen, und der Liebe zu den Doors, mit denen Umgang zu haben ihm der Vater ausdrücklich verboten hatte.

„Mein Leben war sozusagen im Lot. Die neuen Medikamente beseitigten die meisten meiner Verhaltensprobleme, aber nicht alle. Nach wie vor ging ich bei jeder Gelegenheit zu den Doors, doch niemand schien sich daran zu stören (`Wenigstens ist er gut in der Schule‘, überlegten sie sich wohl. `Da halten wir uns besser raus‘). Ich erzählte meiner Familie nichts davon und mußte keine Fragen beantworten. Niemand wollte das Faß zum überlaufen bringen.

Doch der Pegel in dem Faß stieg an. Zunächst ganz langsam. Eine Vielzahl neuer Probleme tauchte auf…“ (1, S. 100)

Sugerman schämte sich, seinem Idol Morrison von der Ritalin-Einnahme zu erzählen:

„Ich hatte Jim erzählt, vor welchem Dilemma ich stand und wie mich das nervte. Ich hoffte, er würde meine Zugehörigkeit zu ihm bestätigen, damit ich von der Schule abgehen und ganztags für die Doors arbeiten konnte. Von dem Kompromiß mit dem Ritalin hatte ich ihm immer noch nichts gesagt und kam mir deshalb wie ein Riesenarschloch vor.“ (1, S. 102)

Die Probleme mit dem Stiefvater wurden immer größer, und Sugerman begann zusätzlich zum Ritalin Haschisch zu konsumieren:

„Ich hatte mir angewöhnt, vor der Schule frühmorgens aus dem Haus zu schleichen, um Clarence aus dem Weg zu gehen. Diese Idee war eigentlich nicht auf meinem Mist gewachsen. Clarence hatte mir verboten, je wieder seine heiligen Hallen zu betreten, bevor ich nicht wie ein normaler Mensch aussah. Neben die Streiterei um die Haarlänge war jetzt die Kleiderordnung getreten: Keine Schlaghosen, keine Lederjacken, keine zerschlitzten oder geflickten Bluejeans. Er hatte mir verboten, mich in seinem Haus aufzuhalten, solange ich mich anzog wie bisher und mir die Haare nicht kürzer schneiden ließ. Damit konnte ich leben. Ich mochte ihn und sein Haus wahrscheinlich noch weniger als er mich und meine Anwesenheit. Außerdem konnte ich mir einen schöneren Start in den Tag vorstellen, als ihm begegnen zu müssen. Lieber ging ich früh aus dem Haus, traf mich mit ein paar Freunden und rauchte auf dem Schulweg einen Joint.

Grass machte das Leben interessanter für mich. Ich fühlte mich freier, weniger an den Streß zu Hause gebunden und an die Erwartungen, die dort und anderswo in mich gesetzt wurden. Ich hatte ein paar Bücher gewälzt und irgendwo gelesen, daß Drogen einem ein trügerisches Wohlbehagen verliehen, was sich schon mal ganz gut anhörte. Fasziniert erfuhr ich, Druck von seiten der Peer Group führe zu Drogenkonsum. Nun wartete ich die ganze Zeit, daß meine Freunde mir die Daumenschrauben anlegten, aber ich wartete vergebens. Im Gegenteil – wer nicht mitzahlte, durfte auch nicht mitrauchen. Meine Mutter hatte mir eingeschärft, mich nicht von meinen Freunden beeinflussen zu lassen. Dad machte sich schon seit über einem Jahr Sorgen, die Doors könnten mich mit Drogen bekanntmachen. `Es darf nicht dazu kommen, daß du nur dabeisein darfst, wenn du Drogen nimmst‘, wurde ich gewarnt.

Druck von seiten der Peer Group – ein Mythos. So etwas gibt es nicht. Der Druck kommt von innen. Das Ich übt den Druck aus. Ich möchte zu Ihnen gehören. Den anderen ist es scheißegal, ob ich das gleiche mache wie sie. Sie sind vermutlich viel zu sehr mit Nachgrübeln beschäftigt, wer zum Teufel sie eigentlich sind und wie sie sich einfügen können, um sich Gedanken darüber zu machen, an wen sie ihren Stoff verschenken.

Das Kiffen gab mir die Freiheit, der zu sein, der ich sein wollte, aus meiner Rolle im Hier und Jetzt zu entfliehen. Man kommt sich cool vor, wenn man high ist, denn die anderen halten einen für cool und man sieht sich selbst durch ihre Augen. Vielleicht strahlt man auch nur eine gewisse Coolheit aus, und die anderen fangen das auf. Daß andere Leute es gar nicht cool fanden, sondern es ablehnten und überhaupt nicht beeindruckt waren, vergrößerte den Reiz nur noch. Ich fand das Kiffen gut. Ich rauchte gerne Grass. Ich mochte den Duft. Ich mochte die Aufregung, das ganze Drum und Dran beim Kiffen. Ich brauchte andere Leute, die kifften. Ich mochte mich selbst, wenn ich high war. Musik gefiel mir besser, wenn ich high war. Da Ritalin meine Konzentrationsfähigkeit steigerte, stellte ich sogar fest, daß ich Geschmack am Lesen fand, wenn ich auf einem kleinen Trip war.“ (1, S. 105-106)

Die Beziehung zu seinem leiblichen Vater war zwischenzeitlich auf dem Nullpunkt gewesen, nachdem er im letzten Moment den Umzug in dessen Haus abgesagt hatte, da er fürchtete, dann keinen Kontakt zu den Doors mehr haben zu können. Nach einiger Zeit entspannte sich das Verhältnis zu seinem Vater wieder:

„Immerhin sprachen Dad und ich wieder miteinander, und längst hatte ich es satt, mir dauernd sein `Du kannst nicht immer tun, wozu du grade Lust hast!‘ anhören zu müssen. Ich verstand, was er damit meinte. Mir ging nur nicht in den Kopf, warum ich das nicht tun konnte. `Alles machst du zu schnell. Verhalte dich doch mal wie ein Kind. Wieso hast du es mit dem Erwachsenwerden so eilig? Nimm dir Zeit. Sonst hast du nichts, auf das du dich noch freuen kannst. Wenn du mal achtzehn bist, wird’s nichts mehr geben, was du noch tun kannst.‘ Mit dieser Erklärung gab ich mich nicht zufrieden. Wieso alles auf Morgen verschieben? Wem schadete ich schon? Meine Eltern sagten, sie wollten nicht, daß ich als Rauschgiftsüchtiger in der Gosse landete oder als Schulabbrecher Penner würde. In diesem Punkt war ich mit ihnen einer Meinung. Kein Problem. `Wir möchten bloß, daß du glücklich, gesund und erfolgreich wirst. Wir wollen nur dein Bestes.‘ Aber genau das wollte ich doch auch. Sie verstanden nicht, wie stark meine Faszination war und wie sehr ich mich schon festgelegt hatte. Sie sahen nur die Auswirkungen davon und waren alles andere als begeistert. Die Frage war nur: Was konnten sie dagegen tun?

Sie gingen zum Angriff über. Ich wich aus.“ (1, S. 109)

Interessant ist die Wiedergabe eines Gesprächs mit Jim Morrison und Ray Manzarik über das Wesen des Künstlers:

„Ich besorgte mir ein Exemplar von Aldous Huxley’s `Die Pforten der Wahrnehmung‘. Ich hatte keine Ahnung, daß das Buch von seinen Erfahrungen mit Mescalin handelte. Das ganze Buch drehte sich um’s Kiffen!

Blake hatte auch gesagt: `Der Weg der Maßlosigkeit führt in den Palast der Weisheit‘, ich faßte diesen Satz so auf wie das, was Jim mir gesagt hatte, als wir uns damals im Duke’s zum erstenmal richtig unterhalten hatten: `Mach so viel Fehler, wie du kannst, setz dir keine Grenze.‘

Bei der erstbesten Gelegenheit fragte ich Morrison und Manzarik, ob ich das richtig verstanden hatte. Ray gab mir eine Eins in Textverständnis. Jim nannte mich einen Klugscheißer.

`Und was ist mit dieser ständigen Beschwörung des Wahnsinns?‘ fuhr ich fort. `Worum geht’s dabei?‘

Jim und Ray tauschten bedeutungsvolle Blicke. Eher an Ray als an mich gewandt sagte Jim:

`Ich bin schon immer der Meinung gewesen, daß ein Künstler die Muse nicht einfach zwingen kann.‘

Ray sagte:

`Stimmt. Sie kommt nicht immer, wenn man sie ruft.‘

Zu mir sagte Jim:

`Es gibt eine Richtung in der Philosophie, die die These vertritt, daß sich alles, jede Art von Leistung, auf den Willen gründet. In einigen Fällen mag dies zutreffen. Aber ich glaube, die eigentliche Leistung eines Künstlers liegt in seiner Aufnahmefähigkeit, nicht in seiner Erfindungskraft…Außerdem halte ich es für die Pflicht und Schuldigkeit eines Künstlers, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um seine Aufnahmefähigkeit zu erhöhen.“ (1, S. 135-136)

Hier klingt an, daß die Reizoffenheit des Hyperaktiven eine wichtige Voraussetzung für eine künstlerische Laufbahn sein kann. Gefährlich wird die Ausssage dann, wenn sie zu Drogen- und Alkoholmißbrauch führt, um auf diesem Weg die Aufnahmefähigkeit zu steigern.

Genau dies wurde in der Folge das Problem Sugermans. Zunächst hielt sich der Konsum sehr in Grenzen, Sugerman arbeitete neben der Schule regelmäßig für die Doors. Einen Wendepunkt markierte der Tod Morrisons in Paris, nachdem Sugerman vorher schon endgültig vom Stiefvater aus dem Haus geworfen worden war und mit Unterstützung Morrisons im Hotel Tropicana in Los Angeles gelebt hatte. Nach Morrisons Tod begab sich Sugerman zu seinem leiblichen Vater:

„Ich klopfte an die große Kirschbaumtür. Die Tür sprang auf. Vor mir stand Dad in einer ausgebeulten Kordhose und einem ärmellosen UCLA-Sweatshirt. Zwischen den beiden Kleidungsstücken guckte sein großer haariger Bauch hervor. Er schien nicht überrascht, mich zu sehen. Aber er wirkte auch nicht sonderlich erbaut.

`Jim ist tot.‘

Meine Stimme klang fremd in meinen Ohren.

`Aha, na und? Was hast du erwartet?‘

Ich wußte nicht, was ich von ihm hören wollte. Wir standen beide an der Tür, er drinnen, ich draußen. Ich erhoffte ein bißchen Mitgefühl. Toll wäre gewesen, wenn er mir einfach vergeben hätte. Oder war das zu viel verlangt?

Keiner von uns sagte etwas. In diesem Moment wäre ich schon mit einem `Hallo‘ zufrieden gewesen. Worauf wartete er? Wollte er, daß ich sagte, was sich eigentlich von selbst verstand? Wollte er aus meinem Mund hören, daß es mir leid tat und ob ich bei ihm wohnen konnte? Oder was? In diesem Moment wurde mir zum ersten Mal klar, daß er auch Nein sagen konnte. Er mußte mich nicht bei sich wohnen lassen. Das rüttelte mich wirklich auf. Im Tropicana zu wohnen und auf Jims Rückkehr nach L.A. zu warten war eine Sache. Aber die Aussicht, dort für den Rest meines Lebens zu wohnen, war etwas ganz Anderes, vor allem jetzt, wo Morrison tot war. Ich war darauf gefaßt, ihn zu bitten. Wenn es sein mußte, war ich dazu bereit. Und Dad schwieg sich immer noch aus. Endlich sagte er etwas.

`Bist du bereit, bei mir einzuziehen, zum Friseur zu gehen, deine Rolle als Familienmitglied zu übernehmen und dich endlich wie ein verantwortungsbewußter Mensch zu benehmen?‘

Ich schluckte. Noch hatte ich die Möglichkeit abzulehnen. Das war zwar leichter, aber nicht viel. Ein Nein bedeutete ein Ja zu einer Menge anderer Dinge, von denen ich nicht sicher war, daß ich mit ihnen zurande kam. Andererseits schloß auch ein Ja eine Menge anderer Dinge mit ein, bei denen mir dies ebenso unsicher erschien.

`Ich kann’s versuchen‘, antwortete ich.

`Das reicht jetzt nicht mehr.‘

Er machte Anstalten, die Tür zu schließen.

`Ok, ok, ich bin einverstanden. Ich mach alles, was du willst. Ich möchte mich ja anpassen, Dad….Mein Gott, ich habe niemand mehr, an den ich mich sonst wenden könnte.‘

`Aha, verstehe, dann bin ich also deine letzte Chance?‘

Mir wurde bewußt, wieviel mir daran lag, es ihm recht zu machen, wie sehr ich ihn brauchte. Die Frage war nur, wieviel von mir selbst ich für seine Anerkennung aufzuopfern bereit war und wieviel mir das nützen würde, wenn er mich nicht so akzeptierte, wie ich nun mal war.

`Du bist meine einzige Chance, Dad.‘

Die Tür schwang wieder auf und mit gesenktem Kopf trat ich ein.“ (1, S. 199-200)

Der Vater verwöhnte ihn finanziell über alle Maßen, kaufte ihm eine Corvette Stingray und richtete in den teuersten Läden von Los Angeles unbegrenzte Kundenkonten für seinen Sohn ein. Er tat aber auch etwas, das den weiteren Lebensweg des Sohnes wohl sehr negativ beeinflußte:

„Dann sorgte er dafür, daß ich das Ritalin absetzte. Eines Abends nahm er das Röhrchen einfach aus dem Arzneischrank und leerte den Inhalt in die Toilette.

`Das brauchst du nicht mehr‘, sagte er und warf das Röhrchen in den Mülleimer.

Auf den ersten Blick war alles in schönster Ordnung. Aber bei genauerem Hinsehen merkte man, daß die Sache schiefzulaufen begann. Die Depression, gegen die ich die ganze Zeit angekämpft hatte, brach schließlich doch über mich herein. Nun war ich das genaue Gegenteil von hyperaktiv: Lethargisch und niedergeschlagen. Mein Körper war träge, aber meine Gedanken rasten. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Meine Nerven lagen völlig bloß. Ich war verletzlich, urplötzlich überliefen mich heiße und kalte Schauer. Oft wurde mir so schwindlig, daß ich mich hinlegen mußte. Als diese Symptome abklagen, wurde mir klar, daß das Junior College und ich nicht füreinander geschaffen waren. Alles was ich darüber gehört hatte, hatte mich zu der Annahme verführt, daß es mir auf dem College besser gefallen würde als auf der High School, und ich glaubte das nur zu gern. Aber ich war einem Irrtum aufgesessen. Das College war genauso schlimm, wenn nicht noch schlimmer, denn es war viel schwieriger. Auch dort wurde man gezwungen, an bescheuerten Kursen teilzunehmen, die man eigentlich gar nicht belegen wollte und die völlig belanglos für das Leben in der wirklichen Welt waren, ja selbst für das Haupt- oder Nebenfach des Studenten (in meinem Fall Sport und Jura) keine Rolle spielten. Noch mehr belastete mich aber die Frage, was dieser ganze Quatsch eigentlich mit Rock’n’Roll zu tun hatte. Null, absolut nichts. Hatte ich all meine Träume begraben, um mir meinen Lebensunterhalt mit etwas anderem als Musik zu verdienen? Wollte ich wirklich Sportler werden? Und später Rechtsanwalt? Es ging einfach nicht. Es widerstrebte mir total. Jeder Tag auf dem College brachte mir das zu Bewußtsein. Es war dumm von mir gewesen, zu glauben, ich könnte damit zurechtkommen. Als Jim noch lebte, hatte ich immer etwas, auf das ich mich freuen konnte. Ich wußte, wo mein Platz war und hatte das Gefühl, auf niemand anderen angewiesen zu sein. Jetzt hatte ich eher den Eindruck, daß niemand anderes auf mich angewiesen war. Ich war frustriert, weil ich das Gefühl hatte, in der Falle zu sitzen. Ich gab mir alle Mühe, mich von den anderen fernzuhalten und den Rest der Welt zu ignorieren. Ich versuchte zu tun, was man von mir verlangte, aber alles wurde nur noch schlimmer. Die Zukunft sah trübe aus. Die Vergangenheit bedrückte mich. Die Gegenwart war unerträglich. Je niedergeschlagener ich war, desto zufriedener wurde Dad. Er sah nur, daß ich zu Hause wohnte, zur Schule ging und auf bestem Weg war, Profi-Baseball-Spieler zu werden.

Eines Abends, als ich im `Whisky‘ mit einer Horde Rock’n’Roll- Fans die gute alte Zeit wieder aufleben ließ, verteilte Doreen, eine Redakteurin des Scene Magazine, mehrere kalkweiße Tabletten. Ich spülte eine davon mit einem Tequila Sunrise runter und soff mir einen Fünf-Sterne-Rausch an, der alles in den Schatten stellte, das ich bisher in meiner Säufer-Karriere erlebt hatte. Tags darauf rief ich Doreen an, um mehr über die Tablette zu erfahren, die sie mir gegeben hatte. Die Dinger hießen Quaalude. Ich hatte noch nie davon gehört. Wie aufregend, an der vordersten Front der Arzneimittelforschung zu stehen.

`Und wie kommt man an das Zeug ran?‘ fragte ich sie.“ (1, S. 201-203)

In der Folge kommt es bei Sugerman zu einem massiven Drogen- und Alkoholmißbrauch, schließlich wird er heroinsüchtig und leidet unter einer Hepatitis, kann gerade noch mit Hilfe seines Bruder und Vaters gerettet werden. Die Wirkungen der einzelnen Drogen, die Sugerman in Form einer `Selbsttherapie‘ ausprobiert, wird sehr eingehend und drastisch dargestellt, auch die Unmöglichkeit, auf die Dauer den Konsum in vertretbaren Grenzen zu halten. Vor diesem Hintergrund sind kürzlich erschienene Befunde (2) aus den USA interessant, wonach unter Ritalin ein Entzug von harten Drogen bei Betroffenen leichter ist, insgesamt die Prognose also besser, wenn Ritalin eingenommen wird.

Zusammenfassend ist das Buch Sugermans eine eindrucksvoll ehrliche Schilderung eines durch Hyperaktivität geprägten Lebens mit sehr präziser Beschreibung der positiven Wirkung von Ritalin und der letztlich extrem negativen von Drogen. Das Buch ist als Lektüre auch und gerade für betroffene ältere Jugendliche sehr geeignet; in vielen Facetten werden sie eigene Probleme einschließlich der Beschreibung eines gleichfalls betroffenen Elternteils, in diesem Falle des als äußerst impulsiv geschilderten Vaters, dargestellt finden. Ein wichtiger Aspekt ist, daß die Lust auf den Konsum harter Drogen nach der Lektüre dieses Buches wohl jedem vergangen sein dürfte.

Klaus-Henning Krause, Johanna Krause

Literatur

1. Sugerman, D.: Wonderland Avenue. Sex & Drugs & Rock’n’Roll. Mein Leben mit Jim Morrison, Ray Manzarek und Iggy Pop. Piper-Verlag, München, Zürich 1993

2.Levin, F.R., Evans, S.M., McDowell, D.M., Kleber, H.D.: Methylphenidate treatment for cocaine abusers with adult attention-deficit/hyperactivity disorder: a pilot study. J. Clin. Psychiatry 59 (1998) 300-305

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